Sehr geehrter Herr Bürgermeister Schuhmacher,
sehr geehrter Herr Martin,
liebe Frau Feldes,
liebe Mitglieder der Initiative KZ-Gedenken Spaichingen,
sehr geehrte Damen und Herren,
2020 jährt sich das Ende der NS-Diktatur zum 75. Mal. Fast ein Menschenleben ist nun vergangen, seit die letzten Häftlinge aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz von der Roten Armee befreit wurden. Und genauso lange ist es her, dass hier, in Spaichingen, rund 400 Häftlinge von der SS auf einem Todesmarsch Richtung Allgäu getrieben wurden.
Diese 75 Jahre bedeuten auch, dass wir uns allmählich von der letzten Generation der Zeitzeugen verabschieden müssen. Den letzten Menschen, die mit eigenen Augen gesehen und erlebt haben, zu was der Nationalsozialismus und all seine Unterstützer und Mitläufer fähig waren.
Das, was uns bleibt, sind Dokumente, Aufzeichnungen, Bilder und Orte – stumme Zeugen eines
himmelschreienden Unrechts. Diese Quellen aber, die uns bleiben, benötigen einen Mediator, der sie uns übersetzt, in unseren Lebens- und Wissenshorizont überträgt – inhaltlich wie emotional.
In letzter Zeit werde ich oft gefragt, ob es denn immer noch mehr Gedenkstätten bräuchte. Menschen aus der Politik wie auch aus meinem privaten Umfeld scheint diese Frage umzutreiben. Anders formuliert könnte man fragen: Leisten Gedenkstätten einen Beitrag zum Gelingen unserer heutigen Gesellschaft? Ich selbst meine: Sie leisten gleich mehrere Beiträge.
An Gedenkstätten finden sich Menschen, die diese eben erwähnte Mediatorenrolle einnehmen können und wollen; die Objekte und Orte zum Sprechen bringen und die uns Geschichten erzählen, die uns emotional mit der Vergangenheit verbinden können.
Darüber hinaus schaffen solche Orte ein Verständnis von und ein Bewusstsein durch Geschichte. Sie verorten das vergangene Weltgeschehen vor der eigenen Haustüre; sie machen große Ereignisse im Nahraum erfahrbar. Das unterscheidet sie auch von einem Geschichtsbuch. Dort reicht der Platz meist nur aus, um das Große und Ganze in den Blick zu nehmen, landes- und weltweite Entwicklungen zweidimensional verständlich aufzubereiten. Eine Gedenkstätte aber ist vor Ort begehbar. Mit meinen Füßen kann ich genau dort stehen, wo Geschichte passiert ist – oft nur einen kurzen Weg von meiner Wohnung entfernt. So erfahre ich, was Geschichte mit mir, mit meinem unmittelbaren Umfeld zu tun hat.
Ferner bieten Gedenkstätten Raum, gemeinsam an einer Erinnerungskultur zu arbeiten, die die gesamte Gesellschaft mit einbezieht – einer Gesellschaft von Alt und Jung, von unterschiedlicher Herkunft, aus der Politik, aus Haupt- und Ehrenamt.
Eine solche Erinnerungskultur kann nie von oben herab „diktiert“ werden. Erinnerungskultur entsteht demokratisch, von unten nach oben. So war es in den späten 80ern und 90ern, als sich die ersten Gedenkstätten und Initiativen auch in Baden-Württemberg gegründet hatten – von wenigen und von unten getragen und gegen Widerstände vieler erkämpft. Aus all diesen Initiativen ist heute ein breites Netz an Gedenkstätten entstanden, an dem viele Menschen aus unterschiedlichsten Berufen und Altersgruppen gemeinsam daran arbeiten, an die Vergangenheit zu erinnern und fürs Heute zu mahnen.
Dennoch: Es muss nicht erinnert werden – es kann. Es wäre schön, wenn. Und an was erinnert wird, das, was eine Gesellschaft im Ganzen für Bewahrenswert, Beachtenswert, ja für Mahnenswert hält, sollte auch in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs immer wieder ausgehandelt werden.
Mit diesem Aushandeln meine ich nicht, dass wir uns nach denen richten, die heute fordern, ein vermeintlicher Schuldkult müsse beendet werden und man solle den Nationalsozialismus nur als Vogelschiss einer ansonsten tausendjährigen, erfolgreichen Geschichte Deutschlands betrachten. Solchen Menschen geht es nicht darum, sich mit anderen zu verständigen, ob und was wir als Gesellschaft aus der Geschichte lernen wollen. Solche Menschen wollen spalten; sie wollen sich profilieren, sich in die Öffentlichkeit drängen, indem sie Dinge sagen, von denen sie wissen, dass es den Medien eine Meldung wert ist und dass durch die sozialen Netzwerke Wellen von Empörung branden.
Damit werden solche kruden Aussagen aber immer weiter verbreitet; man verhilft ihnen zu noch mehr Aufmerksamkeit. Das ist die Form von Werbung, die sich solche Menschen wünschen. Und wir sollten dieser Masche nicht aufsitzen.
Dennoch sollte an einer Gedenkstätte Raum für viele Meinungen und Ideen sein. Freilich nur für solche, die sich im demokratischen Spektrum bewegen, die die Erkenntnisse der Wissenschaft akzeptieren und Fakten anerkennen. Nur durch einen Dialog vieler Menschen mit unterschiedlichsten kreativen Ideen und Zugängen zur Geschichte, Menschen aus Politik und Zivilgesellschaft erreichen wir auch künftig, dass eine lebendige Erinnerungskultur aufrechterhalten bleibt und dass wir uns als Gesellschaft immer wieder darüber verständigen können, wie wir unser Zusammenleben gestalten wollen.
Ich freue mich, über die Einladung zu diesem Tag in Spaichingen und überbringe Ihnen allen herzliche Glückwünsche der Landeszentrale für politische Bildung.
Ich darf mich bedanken bei Herrn Bürgermeister Schumacher, der die Weiterentwicklung der Gedenkstätte im letzten Jahr vorangetrieben hat,
bei Frau Feldes, die die Inhalte entwickelt und als unermüdliche Schnittstelle zwischen Haupt- und Ehrenamt die Fäden zusammengeführt hat,
und bei der Initiative KZ-Gedenken, namentlich ganz besonders bei Herrn und Frau Dapp, bei Frau Hauser und Herrn Großmann für ihren ehrenamtlichen Einsatz, den man an dieser Stelle nicht hoch genug loben kann. Mit der Arbeit, die Sie leisten, tragen Sie maßgeblich zu eben jenem Gelingen einer lebendigen und gelebten Erinnerungskultur bei.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors