Festrede von Dorothee Roos in der Gedenkstätte Eckerwald am 22.04.2018
Meine Damen und Herren, sehr verehrte Gäste und Ehrengäste dieser Feierstunde, die Sie aus Nah und Fern gekommen sind,
es ist mir eine Freude und Ehre, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Ich darf mich Ihnen vorstellen: ich heiße Dorothee Roos und bin ehrenamtliche Leiterin der KZ-Gedenkstätte Neckarelz. Gleichzeitig bin ich die Vorsitzende des 2016 gegründeten Verbundes der Gedenkstätten im ehemaligen KZ-Komplex Natzweiler. Im Verbund haben sich 13 Gedenkstätten von ehemaligen Außenlagern von Natzweiler zusammengeschlossen, 12 davon aus Baden-Württemberg. Gemeinsam mit unseren französischen Partnern aus weiteren 3 Gedenkstätten auf französischem Boden, darunter der sehr großen Gedenkstätte des ehemaligen Hauptlagers Natzweiler, haben wir uns für das europäische Kulturerbe-Siegel beworben, es wurde vor einem Monat in Bulgarien offiziell verliehen. Ich sage das nicht, um damit anzugeben. Ich meine vielmehr, dass wir damit schon sehr nah an dem Motto der diesjährigen Woche der Begegnung dran sind: „Grenzen überwinden – Brücken bauen – Europa gestalten“. Dazu jetzt einige Gedanken.
Alle Gedenkstätten im Bereich des ehemaligen Konzentrationslager Natzweiler haben vom Moment ihrer Gründung an europäische Versöhnungs- und Friedensarbeit geleistet. Und wenn wir überlegen, was das eigentlich für eine Arbeit ist und war, dann können wir sagen: ja, wir haben viele Grenzen überwunden, Brücken über tiefe Gräben gebaut. Der Begriff der Brücke setzt den Abgrund, die Tiefe voraus. Und wer eine Brücke bauen will, muss den Abgrund kennen.
Die Geschichte, um die wir uns kümmern, ist die Geschichte von Menschen aus über 30 europäischen Ländern, die als Gefangene in unsere jeweiligen Orte verschleppt wurden. Europa war hier – 1944/45, hier in den Ölschieferfabriken, hier in den Lagern des KZ-Komplex „Wüste“ und auch in allen anderen Lagern von Natzweiler.
Diese Menschen haben in den Lagern Schreckliches erlebt – und diejenigen, die überlebt haben, wollten meist in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg nie wieder einen Fuß nach Deutschland setzen. Schrecken, Angst, Hass – all diese sehr berechtigten Gefühle versperrten den Weg. Nehmen wir Frankreich und Deutschland als Beispiel.
Nach drei schlimmen, immer entsetzlicher werdenden Kriegen war das Verhältnis zwischen diesen beiden Ländern 1945 komplett zerrüttet. Und doch hatten große Staatsmänner wie der Chef der französischen Widerstandsbewegung gegen die Nazi-Okkupation, General Charles de Gaulle, und der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer schon sehr früh eine Vorstellung davon, dass dieser scheinbar zu einem festen Block gefrorene Hass in Europa keine absolute Grenze darstellte. Die Grenze konnte und kann überwunden oder zum Schmelzen gebracht werden, wenn viele dabei mithelfen, wenn es viele Brückenbauer gibt – und wenn einige, die schon weiter sehen, eine Perspektive, eine Vision eröffnen. Diese Perspektive hieß und heißt Europa – ein friedliches, ein demokratisches Europa.
In diesem Prozess der Verständigung und Versöhnung haben in den letzten 60 Jahren Städtepartnerschaften, Jugendbegegnungen und Schulaustausche eine wichtige Rolle gespielt. Sie waren wichtig, notwendig und unverzichtbar. Aber – oft waren diese Begegnungen darauf ausgerichtet, die Vergangenheit ruhen zu lassen und einen Neuanfang zu machen,
Bei den Gedenkstätte war das anders. Ihr Beitrag zur Versöhnung und Frieden sparte die dunkelsten, die schmerzlichsten Momente nicht aus. Im Gegenteil: die Gedenkstätten schauten dorthin, wo es weh tut. Die Gedenkstätten knüpften Kontakte zu Überlebenden oder auch zu den Familien der Toten – in fast allen Ländern Europas und darüber hinaus, denn manchmal lebten die Familien in den USA, in Israel oder Australien. Sie ließen sich erzählen, was geschehen war – vor der eigenen Haustür, in der eigenen Stadt , im eigenen Landkreis. Das war oft ein sehr schmerzlicher Prozess. Aber siehe da: diese Erzählungen, das Aufschreiben der Geschichten, das Veröffentlichen von Büchern und Filmen vertiefte nicht den Hass, sondern im Gegenteil. Die Erinnerung wirkt heilend, wenn sie im Geiste des Brückenbauens und des Überwindens der Grenzen geschieht. Das gilt bis heute – wir alle können davon viele Geschichten erzählen.
Die Arbeit der Gedenkstätten war nicht von Anfang an gerne gesehen. Nicht selten waren Bürgermeister oder Gemeinderäte nicht erfreut, wenn die dunklen Kapitel der Heimatgeschichte aufgeschlagen wurden. Aber auch sie sprangen irgendwann über den Schatten, ließen sich anstecken vom Brückenbauen und vom Überwinden der Grenzen, die ja vor allem in den Köpfen sitzen. Wir alle haben gemeinsam die Erfahrung gemacht, dass aus einer negativen Geschichte letztlich etwas Positives erwachsen kann, etwas, das Freude macht, weil Menschen zusammenfinden, die die Geschichte getrennt hat. Allerdings, das will ich in aller Deutlichkeit sagen, geben diese positiven Entwicklungen unserer schrecklichen Geschichte nicht nachträglich einen Sinn.
In den letzten Jahren hat dieser Prozess, der vor etwa 30 Jahren in Gang kam, eine neue Stufe erreicht. Die Gedenkstätten der ehemaligen Außenlager von Natzweiler haben sich zusammengeschlossen und immer stärker vernetzt, auch gab es immer intensivere Kontakte zu den französischen Kollegen. Diese Zusammenarbeit bringt verschiedene Erinnerungskulturen zusammen, sie ist deshalb in mehreren Hinsichten „grenzübergreifend“.
Nunmehr haben wir es geschafft, im Bereich des europäischen Kulturerbe-Siegels die erste grenzüberschreitende Bewerbung erfolgreich abzuschließen. Doch das Siegel ist ja nur ein äußeres Zeichen eines inneren Prozesses. Wir haben es geschafft, einen gemeinsamen Blick auf eine gemeinsame Geschichte zu werfen – es ist ein europäischer Blick, der selbstverständlich auch für andere Länder offen ist und sie einschließen kann und soll. Die geografische Verteilung der Natzweiler-Außenlager legt allerdings zunächst eine Verbindung zwischen Frankreich und Deutschland nahe. Gemeinsam können wir die Erinnerungskultur weiterentwickeln und für die Gegenwart und vor allem die Zukunft fruchtbar machen.
Denn ein bloßes Verharren in der Vergangenheit macht ja keinen Sinn. Auch wenn wir diese Vergangenheit akribisch erforscht haben und immer noch neue Tatsachen herausfinden –wir tun das nicht um der Vergangenheit willen. Wir wollen und wir müssen das Bewusstsein dafür schärfen, wie wertvoll der Friede in Europa ist – und wie kostbar und auch zerbrechlich demokratische Strukturen sind.
Wir erleben gerade jede Menge Beispiele für ein Wiedererstarken des Nationalismus in Europa. Es gibt viele, die möchten, dass Grenzen, Mauern und Zäune wieder wachsen, es gibt viele, die demokratische Grundpfeiler wie Gewaltenteilung, Pressefreiheit oder Achtung von Menschenrechten für überflüssig halten und vor allem in Kategorien nationaler Größe und Macht denken. Die Gedenkstätten müssen sich dieser europäischen Verantwortung stellen. Sie müssen zeigen, wohin eine Politik der nationalen Stärke führen kann.
Denn die Erfahrung von Krieg und Diktatur verschwindet langsam aus dem kollektiven Gedächtnis. Die Gedenkstätten in Europa heben die Geschichte auf – in einem doppelten Sinn. Sie bewahren sie, aber sie überschreiten sie gleichzeitig, weisen über sie hinaus. Denn Gedenkstätten sind keine Museen, Sie haben auch einen politischen Auftrag, in einem weiten Sinn: im Sinn des Nach-Denkens und der Sensibilisierung.
Ich möchte schließen mit den Worten eines KZ-Überlebenden, Albert Geiregat aus Nancy. Er war der jüngste politische Häftling im Lager Neckarelz und in diesem Bewusstsein einen Brief an deutsche Jugendliche. Dieser Brief drückt sehr gut aus, was ich zu umschreiben versucht habe. Albert Geiregat erzählt zunächst vom erlittenen Leid, doch dann ändert sich der Ton seiner Briefes. Ich zitiere:
„All das liegt heute so weit zurück.... Aber der Neckar ist immer noch da; ruhig fließt er zwischen sei¬nen Ufern dahin.
Schon lange hat er das Bild jener völlig abgemagerten bleichen Geschöpfe, die seine Ufer bevölkerten, in die Tiefe seiner Wasser hinuntergenommen und ins Meer getragen.
Ihr jungen Leute von heute gehört einer neuen Generation an. Nur in Gedanken kann ich eine Verbindung herstellen zwischen mir Siebzehnjährigem damals in Neckarelz und euch Siebzehnjährigen von heute.
Mein Enkel, der in Straßburg lebt, ist auch siebzehn Jahre alt. Er wohnt auf dem linken, dem französischen Ufer des Rheins. Diese Grenze, die uns früher getrennt hat, verschwindet heute durch die große Europabrücke.
Eure Aufgabe, die der jungen Generation, wird es sein, diese Brücke zu erhalten. Ihr müsst sie immer noch größer zu machen, im Geist der Brüderlichkeit und des wiedergefundenen Friedens.
Doch seid wachsam, damit das Ungeheuer von damals nicht wieder heraufsteigt und aufs Neue die Einheit der Völker Europas zerbricht.
Ich beende meine kleine Rede damit, dass ich euch unseren Wahlspruch sage. Bitte merkt ihn euch gut und behaltet ihn stets im Gedächtnis:
"Kein Hass - kein Vergessen!"